Das Monster von Neuhausen by Augustin Ernst
Autor:Augustin, Ernst [Augustin, Ernst]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406674853
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-06-19T16:00:00+00:00
Dritter Termin
Fehlende Einsicht und weitgehende Konsequenzen
1
Hohes Gericht,
verehrte Geschworene,
werte Beisitzende,
Euer Ehren.
Eines möchte ich hier einmal ganz energisch festhalten – und bitte, das auch im Protokoll festzuhalten –, von Kunstfehlern war nie die Rede. Mein Mandant hat und hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht, irgendwelche Ersatzansprüche, Wiedergutmachungen, Schmerzensgelder etc. für entstandene Schäden anzumelden. Die der Verursacher durch etwaiges Fehlverhalten oder grobe Fahrlässigkeit zu verantworten hätte. Wer solches annimmt, daß unser Vortrag auf eine billige – oder nicht billige – Geldforderung zielt, geht vollends fehl. Mein Mandant ist weder willens noch begierig, sich auf Schachereien, gleich welcher Art, einzulassen, es entspricht nicht seinem Wesen. Nein, der einzige, der das Wort bisher in den Mund genommen hat, ist der Professor selbst. Einzig und allein. «Kunstfehler», er muß es ja wissen.
Nein, ich habe ja bereits angedeutet, worum es hier geht, um keinen schnöden Kuhhandel jedenfalls. Aber vielleicht hat der berühmte, der sehr berühmte Herr Professor eine noch ganz andere Motivation als bloße Angst vor Zahlungen, vielleicht ist es seine hocheigene Berühmtheit selbst? Seine Unfehlbarkeit, die unfehlbar bleiben muß.
Chefvisite um neun.
– – –
Die war wohl eher ein Kolleg zu nennen. Kolleg in Simulation, Agravation und, wenn nötig, Paranoia mit stark hysterischem Einschlag. Wofür es schließlich historische Beispiele gibt, man denke nur an die Kriegsblindheit eines gewissen Herrn, den wir auch nicht vergessen haben – wobei dieses immerhin historische Beispiel das gesamte Auditorium zusammenzucken ließ. War doch eine solche Analogie vielleicht etwas gewagt.
Man sieht, der Chef hatte die Chefvisite inzwischen in den großen Hörsaal verlegt, wo er seinen Patienten in größerem Stil vorführen konnte. Es waren gut einhundert Kommilitonen anwesend, seine Oberärzte sowie Anhang hatte er seitlich auf der zentralen Plattform untergebracht, wo sie gemessen zuhörten, die Kommilitonen dagegen mit aufgerissenen Augen.
Tobias Knopp in seinem Bett mitten im Saal.
Der Professor davor mit ausgebreiteten Armen, um Größe und Umfang des Falles zu demonstrieren.
«Wir haben hier einen Stockblinden», begann er behutsam, «einen, der das Pferd nicht vor dem Wagen sieht und der seine eigene Mutter nicht von einem Radieschen unterscheiden kann. Und das ist kein Spaß.»
Gelächter der Kommilitonen, die sich auf eine vergnügliche Stunde vorbereiten.
«Er sieht nichts.»
– – –
«Absolut nichts.»
– – –
«Absolut und definitiv gar nichts.»
– – –
«Sollte man meinen», fährt der Professor fort, «zumindest glaubt er daran, und das ist noch das Beste für ihn, er glaubt, nichts zu sehen, also sieht er nichts. Also betrügt er sich selbst, im festen Glauben, sich nicht zu betrügen.»
– – –
«Das muß man sich mal vor Augen halten.»
Großes Gelächter.
«Es geht aber noch weiter», fährt der Professor fort, indem er seine eigene Belustigung unterdrückt, «der Mann glaubt nicht nur, sich nicht zu betrügen, er darf auch nicht glauben, daß er das nur glaubt!»
Gelächtersturm, donnerndes Gelächter.
«Der gute Mann betrügt sich also noch eine Ebene höher, lassen Sie mich nachzählen, damit wir nicht durcheinandergeraten, eins, zwei, drei: Betrug auf der dritten Ebene!»
– – –
«Dreifache Lüge. Ein dreifacher Lügner.»
– – –
«Und nun erzähle mir jemand, daß es sich nicht um einen Stockblinden handelt.»
Tobias Knopp in seinem Hemd, in seinem Bett, hat dazu die ganze Zeit geschwiegen, jetzt sagt er müde: «Einen letzten Rest kann ich noch sehen.
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